Familiäre Aufnahmen als Beleg für den Fotograf Heinrich Zille?

Wie aber sind die vielen familiären Fotografien in der Wohnung des Künstlers zu erklären, wenn er selbst nicht fotografierte? Diese Frage stellten Kaufhold, Flügge, Karstens und Lehmann in Publikationen, E‑Mails bzw. persönlichen Gesprächen. Die Antwort ist genauso einfach wie unbefriedigend: Wir wissen es nicht. Auch wenn die Annahme naheliegt, dass der Pinselheinrich die familiären Fotos selbst aufnahm, so ist sie keineswegs zwangsläufig schlüssig. Bekannt ist, dass der fotografierende Bildhauer Gaul bei der Familie Zille zu Besuch war. Auch der Vetter Heinitz fotografierte und hielt sich in der fraglichen Zeit mehrfach in der Wohnung seines Onkels auf. Folglich kämen diese beiden Personen ebenso als Urheber der Fotos infrage.

unbekannter Lichtbildner fotografierte Zille als Soldat
Bildzitat 3: Soldat Heinrich Zille

So sehr Karstens auch versucht, den Status quo zu verteidigen – es misslingt gründlich. Die von ihm unterbreiteten Aspekte sind zweifelhaft und in wesentlichen Teilen falsch. Kaum eine seiner Mutmaßungen kann die Annahme stützen, dass Heinrich Zille Fotograf gewesen wäre. Karstens gleicht seine Deutungen nur unzureichend mit dem geschichtlichen Umfeld ab. Zu beschreiben, was jemand möglicherweise getan haben könnte, reicht für eine Beweisführung nicht aus. Ähnliches ist schon Kaufhold unterlaufen, als er behauptete, dass Heinrich Zille als Soldat während eines Urlaubs 1882 in die Photographische Gesellschaft kam und dort Selbstbildnisse aufnahm.[66] Auf den zwei bekannten Fotos steht er in Uniform lässig an eine Fachwerkwand gelehnt. In der linken Hand hält er eine Zigarre, in der rechten etwas, dass einer Reitgerte ähnelt. Die Schulterstücke sind despektierlich zusammengerollt und die Mütze sitzt schief. Er setzt sich Szene wie jemand, der über den Dingen steht. Es sieht aus, als ob die Bilder in den letzten Stunden seines aktiven Soldatenseins entstanden sind. Erwähnenswert ist, dass sich jeweils unten links im Bereich der Abschlussleiste zwischen Wand und Dielen eine Signatur befindet, die nicht mit den bekannten Zeichen des Grafikers übereinstimmen, und offensichtlich von einem anderen Urheber angebracht wurde (Bildzitat 4). Zu dieser Zeit war für einen einfachen Soldaten undenkbar, die Garnison für einen Urlaub zur Erholung zu verlassen. Vielmehr waren Mannschaften verpflichtet, die ersten zwei bzw. drei Jahre des aktiven Dienstes bei den Fahnen ununterbrochen abzuleisten.[67] Danach wurden sie in die Reserve »beurlaubt«. Uniformen wurden erst dann wieder getragen, wenn die Soldaten zu Reserveübungen gerufen wurden. Folglich ist anzunehmen, dass die Bilder an Orten fotografiert wurden, an denen die Soldaten ihren aktiven Dienst versahen. Für örtliche Fotografen war das ein einträgliches Geschäft mit den immer wieder nachrückenden Soldaten und deren Wunsch, für die Angehörigen zu Hause im Soldatenrock paradieren zu wollen.[68] Dass die Lichtbildner ihre Fototechnik fremden Soldaten für Selbstbildnisse zur Verfügung stellten, ist auszuschließen. Ob sich zusätzlich zu der oben erwähnten Signatur ein Firmenstempel als Nachweis der Urheberschaft auf der Rückseite des im Kupferstichkabinett Dresden aufbewahrten Fotos befindet, lässt sich nicht überprüfen. Das Bild wurde in einer historischen Montierung in einem damals üblichen Verfahren auf dem Untergrund befestigt. Eine Ablösung wird wegen der Gefahr der Zerstörung des Fotos abgelehnt. Hier ist zu akzeptieren, dass zum Schutz der Werke manchen Untersuchungen mit ungewissem Ausgang Grenzen gesetzt sind.

Dass Heinrich Zille Fotograf war, lässt sich nicht nachweisen. Bisher konnte mit hinreichender Sicherheit nur belegt werden, welche Fotos er nicht angefertigt haben kann. Demgegenüber wissen wir, dass sich Heinrich Zille nie als Fotograf zu erkennen gab und es – mit Ausnahme seiner Tochter Margarete Köhler-Zille; zur Einschätzung ihrer Aussage siehe oben – keine Zeitzeugen für eine solche Tätigkeit gibt. Bekannt ist seine Abneigung, mittels technischer Hilfsmittel Bilder zu erstellen. Weiter wissen wir, dass er als Laborant für Freunde Fotos entwickelte und dass sich demzufolge deren Negative in der Verfügungsgewalt des Künstlers befanden. Nachweisbar ist, dass er Fotos geschenkt bekam[69] und Fotografien anderer Urheber als Vorlagen in seinem grafischen Werk verarbeitete.[70] Im Unterschied dazu sind die berufliche Labortätigkeit wie auch fotografische Reproduktionen[71] unbestritten – nur lässt sich daraus kein Urheberrecht ableiten, das die Bezeichnung als Fotograf oder gar den Titel »Fotograf der Moderne« begründen würde. Bemerkenswert ist, dass mit der Entlassung aus der Photographischen Gesellschaft die ihm zugeschriebene Tätigkeit endete. Denn von da an war ihm der Zugriff auf das Labor seiner vormaligen Arbeitsstätte verwehrt, und so hatte er keine Möglichkeit mehr, Gefälligkeiten für seine Freunde ausführen konnte. Wohl gab es den Laboranten Zille, den Fotograf Heinrich Zille hingegen gab es nicht.

Insofern erscheint es notwendig, das Augenmerk auf die Umstände zu lenken, unter denen die vorgeblichen Zille-Fotos in die Öffentlichkeit kamen. Denn hier kommt der wahre Grund der Zuschreibung zum Vorschein. Der als Fälscher seines Vaters bekannte Sohn Walter[72] lebte in angespannten finanziellen Verhältnissen von Arbeitslosenfürsorge.[73] Mit seinem Tod im Jahr 1959 versiegte eine Quelle immer neuer Einnahmemöglichkeiten für seine Familie. Man kann zumindest annehmen, dass die mehr oder weniger zufällig wieder auftauchenden Fotografien gern gesehen wurden. Weder der zweiten Ehefrau Sophie noch dem Stiefsohn Heinz ist ein Vorwurf zu machen, denn offensichtlich kannten beide seit ihrem Eintritt in die Familie im Jahr 1939 die Vermarktung des Pinselheinrichs als einen üblichen, immer wiederkehrenden Vorgang. Es ist müßig, darüber zu streiten, ob die Fotografien vorsätzlich oder in Unkenntnis der wahren Sachlage als dessen Arbeiten angepriesen wurden. Allerdings wirkte der Name Zille verkaufsfördernd, was den späten Namenswechsel von Heinz Kulinowski zu Heinz Zille, den er erst im Alter von 29 Jahren und somit elf Jahre nach der Heirat seiner Mutter mit Walter Zille vollzog, erklärbar macht.[74] Sicher hingegen ist, dass es mit der Kommerzialisierung der Fotos im Fackelträger-Verlag zu einer immensen Wertsteigerung kam. Jetzt hatten sie nicht mehr den Wert von Flohmarktfunden, sondern wurden auf dem Niveau der internationalen Kunstsammlerszene gehandelt.[75] Mit der Veräußerung der Vintage-Kontakte an private Sammler in der Schweiz wurde die Vermarktung fortgesetzt und schließlich mit dem Verkauf der Negative an den Senat von Berlin, wofür Mittel durch die Volkswagen AG bereitstanden, äußerst erfolgreich abgeschlossen.[76]

Finanzielle Interessen für die Zuschreibung der Fotografien an Heinrich Zille

Es ist naiv zu glauben, dass Detlev Rosenbach, der entgegen der Angabe von Karl Günter Simon[77] zu keiner Zeit Leiter des Fackelträger-Verlages war,[78] bei Besuchen in der ehemaligen Wohnung des Grafikers die Fotografien gefunden hat.[79] Nachvollziehbar ist, dass Rosenbach den vorgelegten Fotografien, Fotoalben und anderen Erinnerungsstücken als Erster einen möglichen historischen Wert zuerkannt hat, jedoch nicht, dass er diese ohne Zutun der Wohnungsinhaber Sophie und Heinz Zille zu Tage fördern konnte. Die Widersprüchlichkeit kommt allein schon durch den Bericht über die Absicht, einen Teil der Negative zu entsorgen, zum Ausdruck,[80] denn mit noch nicht entdeckten Fotos hätte sie dies nicht planen können. Auch berichtet Kaufhold, dass die Fotoalben erst nach dem Tod des Pinselheinrichs durch dessen Kinder angelegt wurden.[81] Und der Urenkel Hein-Jörg Preetz-Zille erinnert sich, dass sein Onkel Walter ihm die Glasnegative Ende der 50er Jahre zeigte.[82] Demnach waren die Fotografien in der Familie bekannt, nur hatte sie bisher niemand als Werke des Grafikers bezeichnet. Das geschah erstmals in dem von Luft im Fackelträger-Verlag herausgegebenen Buch. Auch wenn die Erwähnung von Rosenbach als Finder der Fotografien mehr Fragen als Antworten aufwirft, bleibt eine Auseinandersetzung darüber bedeutungslos. Denn zur Klärung der Urheberschaft der Fotos kann ein Streit über den Finder nicht beitragen.

Zur Zeit der ersten Publikation der Fotos 1967 wirkte Rosenbach als Prokurist ohne selbstständige Entscheidungsbefugnis im Fakelträger-Verlag,[83] der sich als Inhaber sämtlicher Urheberrechte an den Werken Heinrich Zille sah.[84] Es ist naheliegend, dass in dem Unternehmen der Handel mit dessen Kunst aufmerksam verfolgt wurde. Und so wird auch dem Kaufmann Rosenbach 1968 die Spekulation des Kunsthändlers Hans Pels-Leusden, aus dem »Pinselheinrich« einen »Berliner Toulouse-Lautrec« zu machen, nicht verborgen geblieben sein.[85] Dass dann unmittelbar nach Aufhebung seiner Prokura im Februar 1971 in der vier Monate zuvor gegründeten »Galerie Detlev Rosenbach« für urplötzlich auftauchende Zille-Werke[86] Spitzenerlöse erzielt wurden, erregte Aufmerksamkeit.[87] Insgesamt explodierten die Preise, was verwunderte und die Presse ausführlich berichten ließ.[88] Einleuchtend ist, dass Rosenbach selbst großes Interesse an einer Steigerung der Preise hatte.

Obwohl schon 1969 die zeitlichen und örtlichen Einordnungen der Fotografien sowie die Erläuterungen in der ersten Publikation 1967 von Friedrich Luft Zweifel erregten[89] und später wenig überraschend widerlegt wurden,[90] war das merkwürdige Auffinden der Fotografien bisher Beweis genug für die Zuschreibung, die nie kritisch hinterfragt wurde. Die genauen Motive dieser Zuschreibung mögen sich bislang nicht im Einzelnen rekonstruieren lassen, aber man darf davon ausgehen, dass finanzielle Interessen und der Wunsch nach rascher wirtschaftlicher Verwertung durch den vermeintlichen Finder Heinz Zille und seinem Helfer Detlev Rosenbach die entscheidende Rolle spielten. Da es keinerlei zweifelsfreie Belege gibt – auch die Begründungen von Kaufhold, Ranke und Luft wurden entkräftet[91] –, kann die These vom Fotograf Heinrich Zille nicht aufrechterhalten werden, zumal bisher bekannte Dokumente dagegen sprechen. Ungeachtet dessen verlieren die Bilder an sich nichts von ihrer historischer Bedeutung als Dokumente der sich rasant entwickelnden Großstadt beim Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert.

Bildzitat

  Heinrich Zille als Soldat, aus: Enno Kaufhold: Heinrich Zille – Photograph der Moderne, München 1995, WV 1, Tafel 1. Entgegen den Angaben dort ist ein anonymer Urheber anzunehmen.

Anmerkungen

[66] Kaufhold (Anm. Nr. 56), S. 15.
[67] Deutsche Wehrordnung, Berlin 1894, S. 12. Vergleiche dazu auch Deutsche Wehrordnung, Berlin 1875, Reiseordnung des Soldatenstandes, Berlin 1901 sowie Gesuchslisten-Bestimmungen, Berlin 1915.
[68] Hoerner (Anm. Nr. 22), S. 125.
[69] Ostwald (Anm. Nr. 14), S. 334.
[70] Ranke (Anm. Nr. 51), S. 233 und 297.
[71] Adolf Heilborn: Heinrich Zille, Berlin [1930], S. 14–15.
[72] Walther G. Oschilewski: Heinrich Zille Bibliographie, Hannover 1979, S. 19, Geerte Murmann: Heinrich, lieber Heinrich! Zille und seine Zeit, Düsseldorf 1994, S. 260 f.
[73] h.e.: Zilles Sohn lebt von der Alfü, Der Tagesspiegel Nr. 1925, 10. Januar 1952, S. 4. Obwohl in dem Artikel Hans Zille genannt wird, ist Walter gemeint, Hans starb bereits 1934.
[74] Kurt Wensch: Heinrich Zilles Vorfahren, Mitteldeutsche Familienkunde, 1965, Heft 4, S. 295–301.
[75] Hans Kinkel: Aus dem Berliner Original wurde eine „große Aktie“, Frankfurter Allgemeine, 23. August 1979, S. 19.
[76] Ankaufsakte der Fotos, Berlinische Galerie, Landesmuseum für Moderne, Kunst, Fotografie und Architektur.
[77] Karl Günter Simon: Fotos von Heinrich Zille Berlin aus einem Pappkarton, in stern, Heft Nr. 49, 3. Dezember 1967, S. 86–94.
[78] Handelsregister, Amtsgericht Hannover HRB 4576.
[79] Karstens (Anm. Nr. 2), S. 101.
[80] Ebenda, S. 101.
[81] Kaufhold (Anm. Nr. 56), S. 12.
[82] Mitteilung von Hein-Jörg Preetz-Zille per E-Mail am 10. September 2014.
[83] Handelsregister (Anm. Nr. 76).
[84] Brief der Verlagsleitung an den Bürgermeister von Radeburg vom 25. April 1991, Heimatmuseum Radeburg.
[85] Ranke (Anm. Nr. 51), S. 311.
[86] Es handelt sich um die unter Anmerkung 26 genannten Plakate.
[87] Heidelinde Rohr: Zum Berliner Toulouse-Lautrec aufgewertet, im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg, Deutsches Kunstarchiv Archiv NL Heinrich Zille IIB-2e, März 1971.
[88] tra: Heinrich Zille – begehrt in ganz Deutschland, Handelsblatt 23./24. April 1971, S. 42.
[89] Hans Scholz: Der Photograph Heinrich Zille, in Der Tagesspiegel Nr. 7281, 24. August 1969, S. 4.
[90] Winfried Ranke: Heinrich Zille Photographien Berlin 1890–1910, München 1985, S. 29 Anmerkung 56.
[91] Zille (Anm. Nr. 1).

28. Dezember 2023