Fiktionen und Zweifel an den Zille-Erzählungen

Bekanntlich faszinieren Erzählungen von und über Prominente sehr, weshalb Wahrheitsgehalt als auch Plausibilität bisweilen sekundäre Rollen spielen. Das ist bei den Zille-Geschichten nicht anders. Selbst wenn der gesunde Menschenverstand unterschwellig Zweifel aufkommen lässt, werden selten kritische Überprüfung angestellt. Auch lassen sich Fiktionen kaum widerlegen, da – wie es in deren Natur liegt – keinerlei Belege existieren. Wie also sind folgende Episoden einzuschätzen?

anonyme Fotografie, die Zille mit einem vorgeblichen Liebermann zeigt
Bildzitat 1: Zille mit »Liebermann«

Ein Foto mit »Liebermann«

Das nebenstehende Lichtbild zeigt Heinrich Zille mit einer Person, die entfernt Max Liebermann ähnelt. Es wurde ein Jahr nach dem Ableben des Grafikers ohne Hinweis auf Urheber oder Entstehung publiziert, und wird bis heute als Bekräftigung für die Freundschaft der zwei Künstler benutzt. Dass es sich nicht um den Präsident der Preußische Akademie der Künste zu Berlin selbst handeln kann, wird im Vergleich mit dem daneben stehenden Pinselheinrich deutlich. Denn der auf dem Foto sich als Malerfürst ausgebende sitzende Lithograf erscheint wesentlich jünger als der neben ihm Stehende – obwohl die wahre Person Liebermann mehr als zehn Jahre älter als Zille war. Auf keinem anderen Foto dieser Zeit ist der Impressionist so frisch, fast jugendlich, abgebildet. Zudem lässt sich weder das verschmitzte Lächeln des Sitzenden als auch die Vertraulichkeit, die sich Zille herausnimmt, mit der für Liebermann sprichwörtlichen Distanziertheit in Übereinstimmung bringen. Insofern handelt es sich wahrscheinlich um einen kostümierter Gast bei einer der in der zweiten Hälfte der 1920iger Jahren stattfindenden »Zille-Bällen«.

Tochter eines Handwerkers oder eines Lehrers?

Vielfach wird seit Jahrzehnten in der Literatur berichtet, dass Heinrichs Ehefrau Hulda die Tochter eines Nadlermeisters und Lehrers gewesen sein soll. Hier werden wie selbstverständlich zwei sehr unterschiedliche Berufe ein- und derselben Person zugeschrieben. Zwar war Nebenerwerb für Leh­rer an der Tagesordnung, da sie vor allem in kleineren Gemeinden als ein notwendiges Übel angese­hen und in Folge dessen schlecht entlohnt wurden. Allerdings war das für gewöhnlich eine Beschäf­tigung als Küster oder Organist, die ebenso wie die Lehre von der Kirche kontrolliert wurden. Auch waren Tätigkeiten üblich, die, wie zum Beispiel Kleintierzucht und Gartenbau, unmittelbar der ei­genen Lebenshaltung dienten. Jedoch nebenher eine mehrjährige Ausbildung und Tätigkeit als Ge­selle und spätere Qualifikation zum Meisters in einem Handwerksberuf zu machen, war sowohl aus finanziellen Gründen als auch beamtenrechtlichen Erwägungen schlicht unmöglich. Auch die umge­kehrte Reihenfolge, nämlich dass ein Handwerksmeister seinen gesellschaftlichen Status aufgeben und sich wiederum in eine Lehre bei einem Schulmeister begeben würde, ist mit den gesellschaftli­chen Ge­gebenheiten nicht vereinbar.

Des Rätsels Lösung findet sich in einer Urkunde, dem Eintrag der Trauung der Eltern von Hulda im Kirchenbuch Königs Wusterhausen Nr. 17/1856: nicht der Vater, sondern der bereits verstorbene Großvater war Lehrer in Rüdersdorf. Die Entstellung ist nur damit zu erklären, dass erst später zu beobachtende Aus- und Weiterbildungen ungeprüft auf vorherige Zeiten übertragen wurden.

anonymer Fotograf um 1901: der »sportliche« Heinrich Zille
Bildzitat 2: der »sportliche« Künstler (Mitte) um 1901.

Die Radtour nach Dresden

Der Grafiker war nach den Worten seines Sohns Walter wenig reisefreudig[1] und hat auch nach eigenen Worten seinen Geburtsort nie wieder besucht.[2] Dennoch soll er mit dem Fahrrad Freunde nach Dresden begleitet haben.[3] Die Hin- und Rückreise über rund 400 km mit den damals üblichen schweren Drahteseln ohne Gangschaltung fordert Respekt ab, zumal von dem Lithografen keinerlei andere sportliche Aktivitäten bekannt sind und er zu eben dieser Zeit – wie auf dem nachfolgendem Bild unschwer zu erkennen – kaum athletisch und nur wenig trainiert war.

Zudem kommen Zweifel auf, wenn der Fahrtweg an Hand der damaligen Verkehrsverbindungen nachvollzogen wird: denn der direkte Weg führt geradewegs durch Radeburg. Es wäre insofern mehr als erstaunlich, dass Zille seine Heimatstadt nicht besucht hätte. Auch diese Geschichte scheint eine pure Erfindung der »Biographen« zu sein.

Bildzitate

1 anonymer Fotograf, aus: Hans Ostwald: Zille’s Vermächtnis, unter Mitarbeit seines Sohnes Hans Zille, Berlin 1930, S. 129.
2 anonym aus: Enno Kaufhold: Heinrich Zille, Photograph der Moderne, Verzeichnis des photographischen Nachlasses, München 1995, Tafel 111.

Anmerkungen

[1] Walter Zille: H. Zille. ... und sein Berlin, persönliche Erinnerungen an den Meister, Berlin 1950, S. 12.
[2] Gerhard Flügge: Mein Vater Heinrich Zille, nach Erinnerungen von Margarete Köhler-Zille, Berlin 1955, S. 156. 
[3] Erich Kranz: Budiken, Kneipen und Destillen, Heinrich Zille und Alt-Berlin, Hannover 1969, S. 59. 

14. Januar 2023