Man kann mit einer Wohnung einen Mensch genau so gut töten, wie mit einer Axt!

Mit diesen oder leicht abgeänderten Worten wird häufig Heinrich Zille zitiert, so zum Beispiel von seiner Tochter Margarete Köhler-Zille[1] und seinem Freund Otto Nagel[2]. Damit sollte vor allem die sozialkritische Einstellung Pinselheinrichs belegt werden. Tatsächlich findet sich dieser Satz mehrfach in Büchern[3], die zu seinen Lebenszeiten publiziert wurden. Da sich an keiner dieser Stellen eine Quellenangabe findet, drängt sich der Eindruck auf, dass es sich um seine eigenen Worte handeln würde. Das jedoch ist nicht richtig; vielmehr ist dieser Aphorismus einer breiten Diskussion zum Städtebau und zur Wohnungsreform entnommen, die zu Beginn des 20. Jahrhundert geführt wurde.

Bereits 11 Jahre vor der ersten Erwähnung bei Heinrich Zille hat Albert Südekum, Mitglied des Deutschen Reichstags und später preußischer Finanzminister, seinem Text über Großstädtisches Wohnungselend ein Motto vorangestellt: »Man kann einen Menschen mit einer Wohnung gerade so gut töten, wie mit einer Axt.«[4] Ähnlich beginnt ein Verein für Jugendfürsorge seinen Tätigkeitsbericht für das Geschäftsjahr 1911 unter »IV. Einiges zur Wohnungsfrage« mit dem Leitspruch: »Man kann mit einer Wohnung einen Menschen genau so töten wie mit einer Axt.« An dieser Stelle wird die vermutliche Urheberin der Worte genannt: Margarete Macmillan.[5] Selbige wird auch 1918 im Aufsatz von Viktor Noack über das Mieterelend in Groß-Berlin[6] als diejenige benannt, die diese Worte prägte. Ungewiss ist, ab wann Zille den Disput kannte und verfolgte.

Wahrscheinlich ist, dass der Berliner Grafiker 1911 über Werner Hegemann auf die Debatte aufmerksam wurde. Dieser international bekannte Architekturkritiker und Stadtplaner widersprach dem Sinnspruch und schrieb: »Das berühmte Wort nämlich, daß man einen Menschen mit einer schlechten Wohnung genau so gut töten kann wie mit einer Axt, ist grundfalsch.« Er vertrat vielmehr die Auffassung, dass »Eine Axt ist eine […] plötzlich erlösende Waffe; eine schlechte Wohnung dagegen ist ein schleichendes, verruchtes Gift, das, bevor es tötet, seine Opfer langsam betäubt, […]«. Hierbei ist bemerkenswert, dass Hegemann eine Seite zuvor Zille – allerdings mit falschem Vornahmen – unter Bezug auf dessen erstes Buch erwähnt hat: »Wie konnte es entstehen, dieses gräßliche, höchst gefährliche Berliner Mietskasernenmilieu (der Poet seiner in Ulk gepanzerten Verkommenheit ist Hermann Zille; möchte dieser Künstler ein Publikum finden, das in seinen Zeichnungen nicht nur den Ulk sieht, sondern das seine „Kinder der Straße“ Seite für Seite neben Otto Rühles Monographie über das „proletarische Kind“ liest!)?«[7] Diese wenig schmeichelhafte Nennung wird dem viel lesenden Pinselheinrich nicht unbemerkt geblieben sein.

Die Arbeiten der vermutlichen Urheberin des Aphorismus Margarete Macmillan waren nicht Gegenstand dieser Untersuchung; insbesondere nicht, ob sie die tatsächliche Verantwortliche der oben genannten Worte ist. Weitere Nachforschung könnten das klären – an dieser Stelle ging es jedoch lediglich um die Korrektur einer falschen Zuschreibung an den Grafiker Heinrich Zille.

Anmerkungen

[1] Gerhard Flügge: Mein Vater Heinrich Zille, nach Erinnerungen von Margarete Köhler-Zille. Berlin 1955, S. 19. 
[2] Otto Nagel: H. Zille, Veröffentlichung der Deutschen Akademie der Künste. Berlin 1957, S. 150. 
[3] Heinrich Zille: Zwanglose Geschichten und Bilder. Berlin 1919, S. [3]; Heinrich Zille: Berliner Geschichten und Bilder. Dresden 1925, S. [8] sowie Hans Ostwald: Das Zillebuch, unter Mitarbeit von Heinrich Zille. Berlin 1929, S. 104. 
[4] Albert Südekum: Großstädtisches Wohnungselend. Berlin und Leipzig 1908, S. 5. 
[5] Tätigkeitsbericht der Deutschen Zentrale für Jugendfürsorge e.V. für das Geschäftsjahr 1911. Berlin (o.J.): S. 32. 
[6] Viktor Noak: Mieterelend in Groß-Berlin, in: Kommunale Praxis, 18. Jahrgang, Berlin 30. März 1918. 
[7] Werner Hegemann: Der Städtebau nach den Ergebnissen der Allgemeinen Städtebau-Ausstellung in Berlin nebst einem Anhang: Die internationale Städtebau-Ausstellung in Düsseldorf. Berlin 1911, S. 83. 

9. Januar 2024